Album der Woche:
Der Kopf dröhnt, der Körper vibriert, die Seele brennt: Wo habe ich die letzte Nacht verbracht? Und wer war bloß dieser Typ, mit dem ich Sex hatte? »Gotta stop getting fucked up«, singt Jazmine Sullivan in »Bodies«, dem ersten, grandios unverschämten Gospel ihres neuen Albums – und mahnt sich selbst: Reiß dich mal zusammen, Bitch, du hast zu viele One-Night-Stands, sammelst zu viele Leichen im Keller, »you're getting sloppy, girl«.
Das Tolle an diesem Song ist, dass die Erkenntnis des eigenen Schlampentums hier nicht gleichbedeutend mit Minderwertigkeitsgefühlen ist. Im Gegenteil: Der Stolz auf die sexuelle Promiskuität, eine »Ho« (oder »Heaux«) zu sein, also eine Hure aus Sicht der Männer, steht gleichberechtigt, wenn nicht kokettierend neben allem natürlichen Selbstzweifel, es ist ein ambivalent schillernder Songtext, der in früheren Pop-Zeiten einer männlichen Perspektive vorbehalten war.
Doch immer mehr Frauen in der Popmusik, vor allem im Soul und R&B, thematisieren ihre Sexualität mit zunehmendem Selbstbewusstsein und emanzipieren sich mit ihrer Kunst von der bigotten, patriarchalischen Bewertung ihres Verhaltens. Sie singen auch über die Situationen, in denen sie nicht gut, brav oder niedlich aussehen, nicht die Opfer von Ignoranz oder Übergriffigkeit sind, sondern auch auf ihren Wohlstand und Komfort bedachte Biester und »Gold Digger«, lüstern und angriffslustig, aber auch zutiefst verletzlich, empfindsam und liebebedürftig.
Jazmine Sullivan, eine mehrfach Grammy-nominierte Sängerin aus Philadelphia, hat dieser Komplexität nun ein meisterliches Konzept-Album gewidmet. Die »Tales«, die sie darauf in nur einer knappen, aber sehr intensiven halben Stunde zusammenträgt, sind erstmals nicht nur ihre eigenen, sondern auch kurze, offenherzig plaudernde Spoken-Word-Intermezzi von Freundinnen und Kolleginnen, darunter die unverblümt sexpositive Sängerin Ari Lennox. Die souveräne Pose, die Sullivan einnimmt, erinnert an die Empowerment-Pionierin Billie Holiday und ihr trotziges, provokantes »Ain't nobody's business if I do«: Geht niemanden etwas an, wie unkeusch und amoralisch ich bin, schon gar nicht die Kerle.
Dieses Ladies' Business haben in den letzten Jahren bereits moderne Hip-Hop- und R&B-Künstlerinnen wie SZA und H.E.R. (hier als Gastsängerin dabei) übernommen, zuletzt sogar Pop-Prinzessin Ariana Grande auf ihrem Sex-Album »Positions«. Doch Sullivan, 33, die ihre Songs selbst komponiert und schreibt, ist allein gesanglich eine andere Kategorie.
Sie gilt als eines der größten Talente des vergangenen Jahrzehnts, auch wenn es zwischen ihren Veröffentlichungen wegen privater Turbulenzen oft längere Zeitabstände gab, zuletzt veröffentlichte sie 2015 ein Album. Ihre schmerzhafte, wütende Break-up-Single »Bust Your Windows« von ihrem Debüt »Fearless« (2008) gilt als Meilenstein des jüngeren, traditionellen Soul. Die US-Kritik vergleicht das musikalische und inhaltliche Spektrum von »Heaux Tales« bereits mit bahnbrechenden Genre-Alben wie Lauryn Hills »Miseducation«. Klanglich orientiert sich Sullivans Songwriting tatsächlich eher an Old-School-Beats und dem Vocal-Soul der Achtziger- und Neunzigerjahre als am zeitgenössischen Charts-Pop. Das Spektakel ist nicht die Musik, sondern Sullivans Stimme und ihre nach allen Seiten furchtlose Attitüde.
In der auf ein geisterhaftes Gitarrengeläut und Chöre reduzierten Ballade »Lost One« ruft sie ihrem Ex-Lover auf herzzerreißend traurige Weise hinterher: »Just don't have too much fun without me« und räumt wenige Zeilen später ein: »I know I'm a selfish bitch«. Im lässigen Swingbeat von »Pick Up Your Feelings« ist sie dann allerdings weitaus weniger konziliant, sondern herrlich genervt von der Mimosenhaftigkeit des gerade entsorgten Typen.
Die Zeit, in denen Jazmine Sullivan als Geheimtipp unter Soul-Kennern galt, dürfte mit diesem triumphalen – und sehr zeitgeistigen – Comeback vorbei sein. Bei ihrem virtuellen Live-Auftritt bei den Soul-Train-Awards im November inszenierte sie sich, wiederum Holiday-haft, als »Black Lives Matter«-bewusste Diva im Schwarzweiß-Setting, die sich in einer nur für »Colored« reservierten Garderobe zurecht macht. Anfang Februar wird sie zusammen mit dem Country-Star Eric Church beim Football-Superbowl die amerikanische Nationalhymne singen. 2021, so viel scheint klar, wird noch viel über diese »Heaux Tales« gesprochen werden. (9.0)
Kurz Abgehört:
Rhye – »Home«
Schon das Intro von »Home« erinnert mit Haaa-hoo-hoo-Chören an Yoga-Entspannungsübungen: Der kanadische Musiker Mike Milosh alias Rhye ist mit seinem neuen Album ganz auf Lockdown eingestimmt. Leider sind seine betont kuscheligen, im heuligen Kopf-Falsett vorgetragenen Elektro-Soul-Grooves so spannungsarm, dass einen allein die schlaffen Handclaps von »Come In Closer« aggressiv machen. Hüttenkoller. (2.0)
Bicep – »Isles«
Dann schon lieber entspannte Rave-Simulation im Homeoffice! Das DJ-Duo Bicep sitzt wegen der Pandemie leider auch im heimischen Nordirland fest, sonst würde es längst die Clubs mit ihrem eher nicht muskelprotzenden, sondern sphärischen Trance-Sound aus Footwoork, House, Breakbeats und Esoterik-Gebimmel bespielen, zum Beispiel im Berghain beim diesmal leider nur virtuellen CTM-Festival. Seufz. (6.5)
Palberta – »Palberta5000«
Bei Live-Auftritten (hach, damals!) tauschen die drei jungen Musikerinnen von Palberta andauernd ihre Instrumente. Entsprechend chaotisch klingt auch der sympathisch verwinkelte Punk-Pop des DIY-Trios aus New York. »Palberta5000« könnte der Band erstmals mehr Aufmerksamkeit bescheren: Ihre Schrammeleien über Kühe, Ameisen oder Frühstück mit Ei und Bacon haben erstmals so etwas wie Pop-Appeal. (7.0)
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