Album der Woche:
Manche Musik möchte man sofort live erleben, sich voll und ganz mit ihr umgeben. Man möchte sich von diesen verlässlich antreibenden Fleetwood-Mac-Drums davontragen lassen, jedem in die Atmosphäre getupften Klavierakkord und Orgelakzent nachsinnen. Und dann die Stimme dieser Sängerin: Hell und sanft, sehnsuchtsvoll klagend, aber auch zutiefst beruhigend. Plötzlich wagt man wieder zu atmen.
Tja, genug geschwurbelt, das wird leider erst mal nichts: keine Livekonzerte absehbar, zumindest nicht IRL, also in real life. Was das neue Album von The Weather Station allerdings nicht weniger spektakulär wirken lässt. Vielleicht sollte, nein, muss man es zu Hause einfach nur laut genug abspielen, um jede Nuance zu durchdringen, sich umarmen zu lassen.
Hinter dem Bandnamen verbirgt sich die kanadische Songwriterin Tamara Lindeman. Die 36-Jährige, im Nebenberuf Schauspielerin (als Tamara Hope), verbrachte die ersten Jahre ihrer musikalischen Karriere damit, sich vom Image einer sehr kompetenten Joni-Mitchell-Kopie zu befreien, am souveränsten gelang ihr das auf ihrem letzten Album, 2017 erschienen.
Jetzt kehrt sie mit neuer Band (unter anderem zwei Perkussionisten, Saxofonist Brodie West), opulentem Sound und neuer Mission zurück. Einen »weird winter« lang verschlang sie Bücher und Texte über den Klimawandel und entwarf nebenbei Songskizzen auf einem Spielzeugkeyboard, sagte sie der »New York Times«. Parallel begann sie, Fridays-for-Future-Demonstrationen zu besuchen und eine Gesprächsreihe mit Musikern und Aktivisten über die Klimaproblematik zu moderieren.
Aus Skizzen und Klimasorgen wurde letztlich eines der bisher mitreißendsten Popalben des Jahres: »Ignorance«, sagt Lindeman, bezieht sich darauf, dass ihre Generation zwar mit dem Bewusstsein aufwuchs, dass der Klimawandel real ist, dennoch aber gesagt bekam: Die Apokalypse kommt, aber hey, macht einfach weiter euer Ding! Dieses gebrochene Verhältnis zur Realität, von dem sie selbst betroffen ist, symbolisiert sie unter anderem durch einen schmucken Anzug aus Spiegelscherben, den sie in ihren selbst inszenierten Videoclips zum Album trägt, ein wandelnder Discokugel-Reflektor. Nicht out of the woods, sondern mittendrin im Schlamassel.
In den Texten geht es um diese Dissonanz, um die Dekadenz im Angesicht des Desasters. »Atlantic«, ausschweifend und tosend, ringt mit rotweinroten Meereswogen im Sunset und damit, die beunruhigenden Schlagzeilen der Medien ignorieren zu wollen. Zugleich geht es aber auch um das Unvermögen, die Fragilität der Umwelt zu begreifen: »How can I touch this softest petal, softest stem, softest leaf, bending, green, in my palm? Thinking I should get all this dying off of my mind«, singt sie. »Robber«, ein aufgewühlter, nervöser Jazz-Flow, handelt von der Naivität gegenüber abstrakten Konzernen wie Exxon, sie nicht als miese Zukunftsräuber zu betrachten. Sie fühle sich so nutzlos wie ein Baum in einem Stadtpark, singt sie in einem anderen Song, »standing as a symbol of what we have blown apart.«
Natürlich könnte man sich darüber lustig machen, dass ausgerechnet eine Band namens The Weather Station sich nun emphatisch mit der Großwetterlage beschäftigt, den »emotionalen Aspekten des Klimawandels«, wie Lindeman es ausdrückt. Und manchmal lässt sich die barocke Musik, die diese Untergangsprosa mit größtmöglicher Schönheit kontrastiert, von sich selbst überwältigen, dann erinnert sie nicht mehr nur an das tolle, thematisch ähnliche »Titanic Rising«-Album von Kollegin Weyes Blood, sondern vor allem an den saturierten Achtzigerjahre-Radiorock von »Tango In The Night«, um mal bei Fleetwood Mac zu beiben. In seinen besten Momenten aber (zum Beispiel »Trust«) durchweht »Ignorance« der erhabene »Spirit of Eden« von Talk Talk. Unmöglich zu ignorieren. (9.0)
Kurz Abgehört:
Albertine Sarges – »The Sticky Fingers«
Die Musik wirkt so schillernd und entrückt wie der exotische Tiefseefisch im Song »Fish«. Man denkt: B-52's? Talking Heads? Funk-Bässe? Querflöte!? Die Themen der Berliner Künstlerin Albertine Sarges auf ihrem mit hinreißend verspulten Post-Punk-Tunes prall gefüllten Debüt sind aber gar nicht gestrig: Es geht um feministischen Aufbruch, vermittelt mit umwerfend fröhlicher Sesamstraßen-Chuzpe. Toll. (8.2)
Sturle Dagsland – »Sturle Dagsland«
Oh, ein neues Björk-Album! Äh, nein: Sturle Dagsland, der interessanteste norwegische Popkünstler zurzeit, singt in »Dreaming« und »Waif« so hell und exaltiert wie die Islandfee, kann aber auf seinem Debüt auch wie ein Stollentroll grollen (»Kusanagi«): Softer, mystischer Folk und harter, experimenteller Noise, gespielt auf Instrumenten wie Guzheng, Mbira, Duduk oder Marxophone. Kathartisch. (7.5)
Die Regierung – »Da«
Bei manchem setzt der Lockdown ungeahnte Energie frei. Nicht immer bei der amtierenden Bundesregierung, aber immerhin bei der Regierung, die der Musiker Tilman Rossmy seit bald 30 Jahren in diversen Koalitionen anführt, lange Pausen inbegriffen. »Da« daddelt, schrammelt und krautrockt sehr groovy ums Thema Selbstfindung, frei flottierend aus dem Homestudio. Wie Dinsosaur Jr. beim Yoga. (7.2)
Foo Fighters – »Medicine At Midnight«
Wie Bowies »Let's Dance« sei das elfte Album der Foo Fighters, hatte der Sänger und Ex-Nirvana-Drummer Dave Grohl postuliert: eine Tanzplatte, peppig, lustig und groovy. Das wäre was gewesen! Tanzen kann man zu »Shame Shame« (File under: Maroon 5) oder »Love Dies Young« (File under: Kiss), aber immer noch am besten mit einem Bierbecher in der Hand im Stadion. Also eher linkisch. File under: Whitesnake. (3.0)
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