Mitte der zweiten Hälfte wurde es laut auf dem Platz. Leon Goretzka hatte den Ball bei einem Zweikampf im Mittelfeld ins Aus gespitzelt und damit einen Mainzer Angriff unterbunden, als sich plötzlich Joshua Kimmich dicht vor ihm aufbaute und ihm ins Gesicht brüllte: »Ja! Junge! Ja!« Gut, dass Goretzka seinen langjährigen Freund und Mitspieler bestens kennt. Sonst hätte er möglicherweise noch Angst bekommen.
Eine von vielen Szenen, in denen zu sehen (und zu hören) war, wer an diesem Sonntagabend im Spiel des FC Bayern erneut die Rolle des Antreibers, des Einpeitschers übernommen hatte: Joshua Kimmich, der erstmals nach seiner vor acht Wochen erlittenen schweren Meniskus-Verletzung wieder in der Startelf stand. Allerdings, und das war die große Erkenntnis dieses verwunderlichen Spiels, nicht mehr wie in der ersten Hälfte auf seinem üblichen Stammplatz im defensiven Mittelfeld. Sondern als rechter Außenverteidiger. Eine Position, die Joshua Kimmich eigentlich längst hinter sich zu haben wähnte, die ihn aber doch immer wieder einholt. Und die er wohl für den Rest seiner Karriere auch nicht mehr ganz losbekommt. Weil er dort ganz einfach zu gut ist.
Dass Hansi Flick den vielleicht weltbesten Sechser für die zweite Hälfte nach rechts hinten beorderte, lag an der völlig missratenen ersten Hälfte. Im achten Bundesliga-Spiel nacheinander kassierten die Bayern nun den jeweils ersten Treffer einer Partie (diesmal sogar die ersten zwei): In der langen Liste der Rekorde, die der Triple-Sieger zuletzt aufgestellt hatte, ist dies mit Sicherheit die Marke, auf die man gern verzichten würden. Später beklagten die Spieler wieder einmal die fehlende Einstellung, dass man nicht wach gewesen sei, dass man das schnell abstellen müsse.
Das sagten sie nach den vergangenen acht Spielen aber auch. Warum ihnen die Umsetzung nicht gelingt, warum die Spieler ab Anpfiff der ersten Halbzeit mit dem Kopf überall zu sein scheinen, nur nicht auf dem Platz, ist ein Rätsel.
Schwachstelle Außenverteidiger
Warum es zunächst auch gegen Mainz nicht klappte, lag, wie Flick später monierte, an den vielen verlorenen Zweikämpfen – sofern die Spieler überhaupt in einen Zweikampf kamen, ohne nicht vorher schon umspielt zu werden. Die große Schwachstelle sah Flick aber gerade bei den Außenverteidigern, bei Alphonso Davies auf links, vor allem aber auf rechts bei Benjamin Pavard, dem zu viele Fehler unterliefen und der zu wenig Impulse nach vorne setzte – was Flicks Laune im Lauf von Hälfte eins exponentiell nach unten drückte. Wütend und fluchend verfolgte er die ersten 45 Minuten, noch nie in den 14 Monaten seiner Amtszeit als Cheftrainer hatte man ihn in der Münchner Arena so grimmig erlebt wie am dritten Tag des Jahres 2021.
Ein Unmut, dem er in der Kabine Luft machte. »Ich kann ja auch laut werden, ich habe mit den Jahren auch dazu gelernt«, gestand Flick später, als wolle er das alte Klischee des immer so ruhigen und beherrschten Übungsleiters endgültig ablegen. Flick verdeutlichte aber auch, dass der verdienten Standpauke sofort die zielorientierte Suche nach der Problemlösung folgte. »Es ist ja wichtig, dass man dann nicht nur in den Wald schreit, sondern sich auch auf die nötigen Umstellungen konzentriert.« Was dann auch ganz gut gelang, mit der Auswechslung des ganz schwachen Pavard und dem Positionswechsel von Kimmich nach rechts hinten.
Und plötzlich lief das Spiel der Bayern, ganz bezeichnend die Szene, die keine fünf Minuten nach Wiederanpfiff die furiose zweite Hälfte auslöste. Einen zielstrebigen Angriff über die rechte Seite von Kimmich vollendete nach kurzen Zwischenstationen bei Serge Gnabry und Robert Lewandowski? Natürlich: Kimmich. Ab da ging es nur noch in eine Richtung, auf die des Mainzer Tores. Und ganz oft über die rechte Seite. Dass er sich genau so und nicht anders einen Außenverteidiger vorstellen würde, meinte Flick später noch – eine Andeutung, dass er auf Kimmich künftig genau dort vielleicht wieder öfters zurückgreifen könnte.
Position eigentlich abgehakt
Dabei schien Kimmich mit dieser Position schon abgehakt zu haben. Nach dem Karriereende von Philipp Lahm 2017 war er zwei Jahre lang Bayerns etatmäßiger Rechtsverteidiger, 2019 rückte er dann ins defensive Mittelfeld. Immer wieder betonte er die Vorzüge, die er dort habe: zentraler im Geschehen, näher an allen Mitspielern dran, die besseren Möglichkeiten, ein Spiel zu lesen, aufzubauen, zu gestalten. Kimmich war endlich da, wo er schon immer hinwollte.
Wie sehr er sich mit der Sechser-Position identifizierte, zeigte sich symbolisch auch zu Saisonbeginn. Als wenige Stunden vor dem Eröffnungsspiel der Wechsel von Thiago zum FC Liverpool feststand, sicherte sich Kimmich, der bis dahin immer die 32 trug, kurzfristig noch Thiagos Rückennummer. Auf die Schnelle warfen die Bayern noch die Beflockungsmaschine in Gang, beim 8:0 gegen Schalke am Abend lief Kimmich dann bereits mit der Nummer sechs auf.
Dass Kimmich freilich immer eine optimale Option für rechts hinten ist, war schon im Sommer beim Finalturnier der Champions League in Lissabon zu sehen, als er dort für den verletzten Pavard aushalf und im Finale gegen Paris St. Germain das entscheidende Tor durch Kingsley Coman vorbereitete. So wie damals zeigte er nun auch am Sonntag gegen Mainz, wie sehr man auch als Außenverteidiger ein Spiel bestimmen und gestalten kann. Wenn man es so kann wie er.
Sofern die Defensiv-Zentrale mit Leon Goretzka und Corentin Tolisso solide besetzt ist, dürfte Kimmich auf dieser Position weiterhin eine Alternative sein. Und vielleicht sogar mehr als das. Pavard kämpft schon die gesamte Saison mit seiner Form, der derzeit verletzte Ersatz Bouna Sarr vermochte bislang auch nicht zu überzeugen. Flicks bester Rechtsverteidiger ist gerade sein Sechser.
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