Schwester Marlene ist sicher: "Hätte ich mich umgedreht, nur eine Sekunde, wäre ich jetzt nicht mehr hier".
Am Dienstag kurz vor der Detonation war die Frau von der Genossenschaft der Töchter der christlichen Liebe vom heiligen Vinzenz von Paul auf dem Dach der Schule, die ihre Organisation in Beirut Geitawi unterhält. Von hier aus blickt man auf die gesamte untere östliche Innenstadt und den Hafen. Bis zum Ort der Explosion sind es vielleicht eineinhalb Kilometer.
Schwester Marlene aus Tannourine in den libanesischen Bergen ist die Direktorin der Schule der Unbefleckten Empfängnis. Als sie das Grollen der Explosion hörte, begann sie zu rennen, in Richtung Fahrstuhl. "Mutter Maria, steh mir bei!", schrie sie immer wieder, sagt sie. Hätte die 48-Jährige die Treppe genommen, wäre sie jetzt tot, da ist sie sich sicher. Die Fenster hat es mitsamt den Metallfassungen ins Gebäude geschleudert. Kurz nachdem Schwester Marlene in den Fahrstuhl stieg, krachte es über ihr. Eine halbe Stunde später zog sie der Hausmeister über einen schmalen Spalt aus der Zelle.
Gerade war die Renovierung der Schule beendet. Vier Gebäude, 7000 Quadratmeter, 90 Räume. 350 Schüler lernten nun hier, im Alter von drei bis 15 Jahren. Aus der ganzen Stadt. "70 Prozent Christen, aber auch 30 Prozent Muslime und Drusen", sagt Schwester Marlene. Während das private und das staatliche Schulsystem im Land zusammenbrachen, wurde diese katholische Schule, für die die Eltern der Schüler keine Gebühren zahlen mussten, immer beliebter.
Schwester Marlene zeigt nach unten in den Hof, auf die Reste von Fenstern und Türen: "Alles, was drin war, ist jetzt draußen."
Darunter auch die Bauteile aus dem ersten Stock, die auf Sophie Khasrovian stürzten. Schwester Sophie war Kindergärtnerin. Geboren in Isfahan in Iran vor 77 Jahren als Mitglied der armenischen Minderheit. Sie war vor 20 Jahren in den Libanon gekommen. "Es war Teil ihrer Mission", sagt die Direktorin und zeigt ein Passbild ihrer Kollegin: eine stämmige Frau mit vollen Wangen und grauen Schläfen. Die Kinder hätten sie geliebt: "Sie war wie eine Mama für sie."
Hadi, der Parkwächter, fand Schwester Sophie nach der Detonation unter den Trümmern, lebend, aber nur noch schwach atmend: "Wir haben sie nach unten gebracht, hierher", weist er auf einen Holzstuhl auf dem Parkplatz.
Als Schwester Marlene dazukam, erkannte sie ihre Freundin kaum mehr wieder: "Ihre Augen hatten sich verändert, ihr Gesicht schwoll immer weiter an." Ein Krankenwagen war am Abend der Katastrophe nicht zu bekommen, die Kliniken der Gegend zerstört. "Schließlich haben meine Eltern sie in ihrem Auto abtransportiert", sagt Fadi.
Schwester Marlene saß neben ihr auf dem Rücksitz: "Aus ihren Augen, aus der Nase und den Ohren kam Blut. Doch sie hat weiter gebetet, ganz still." Bald nach ihrer Ankunft in einem Krankenhaus am anderen Ende der Stadt starb Schwester Sophie, jetzt liegt sie bereits auf einem Beiruter Friedhof begraben.
Am Tag vor ihrem Tod hatten die Frauen noch ein anderes Kloster der Gemeinde besucht, in den Bergen oberhalb von Beirut. Schwester Marlene zeigt ein Video auf ihrem Handy. Zu sehen ist die 77-jährige Sophie, in Ordenstracht mit Velan und Habit, wie sie in einer karierten Hängematte schaukelt. Sie gibt sich selbst Anschwung, indem sie an einem Seil zieht, das an einen Baum gebunden ist. Die Schwester schwingt vor und zurück, kiekst dazu auf Französisch: "Ich bin so glücklich."
August 17, 2020 at 02:19AM
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Beirut nach der Katastrophe: Porträts aus einer verwundeten Stadt - DER SPIEGEL
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