Diesmal war es kein Marathon, wie am Freitag, als es drei zähe Stunden gedauert hatte, bis sie 30 Skirennfahrer die Streif hinuntergescheucht hatten, um das Rennen mit Brief und Siegel in die Wertung wandern zu lassen; immer wieder unterbrochen von Stürzen, Bergungsarbeiten, Föhnwind. Diesmal war schon am Samstagmorgen klar: Das kann nichts werden. Die zweite Abfahrt des Wochenendes in Kitzbühel wurde abgesagt, sie soll am Sonntag nachgeholt werden, der Super-G rückt auf den Montag.
In der Nacht zum Samstag hatte es bis zum Hausberg hinauf geregnet, am Morgen lagen Schnee und Wolken über der Streif, die Kulisse erinnerte eher an eine schottische Hochlandebene. "Ich wäre gerne gefahren, aber natürlich nur bei guten Bedingungen", sagte Andreas Sander, am Freitag als Fünfter der Beste einer erneut bärenstarken deutschen Auswahl. Auch Christian Schwaiger, sein Cheftrainer, begrüßte die "relativ vernünftige Entscheidung" von Organisatoren und Jury.
Und was die verbalen Aufräumarbeiten des Vortages anging, vor allem nach dem schweren Sturz des Schweizers Urs Kryenbühl? Da hielt sich das Lob schon eher in Grenzen.
Der Zielsprung, der Kryenbühl ausgehoben hatte, hatte auch viele Kollegen an den Rand des Machbaren gedrängt. Der Deutsche Josef Ferstl sinnierte über seinen "Schanzenrekord", "da haben die Kniebeugen im Sommer geholfen, dass ich das stehe", scherzte der 32-Jährige. Aber konnte man diese Flugschau auch den Piloten anlasten? Die waren in tiefster Rennhocke zum Sprung gerast, wie immer, "sonst gewinnst du ja nichts", sagte Ferstl. Das Problem sei ein anderes gewesen, bekräftigten fast alle Beteiligten: "Der Ruf, den Zielsprung zu entschärfen, ist von uns Athleten jeden Tag gekommen", sagte der Österreicher Matthias Mayer, Zweiter am Freitag, mit Blick auf die Trainingsläufe am Mittwoch und Donnerstag. Die Fahrer habe es schon da weit getragen, und im Training hält sich bekanntlich (fast) jeder zurück. "Unverständlich" fand Mayer, dass die Kritik weitgehend verdampfte. Noch am Freitag führte die Anfahrt zum Sprung leicht bergauf, wie Sieger Beat Feuz tadelte. Wenn man mit 140 oder 150 Stundenkilometer Richtung Ziel rausche und schon ein kleiner Fehler großen Schaden anrichten könne, befand auch Ferstl, "dann musst du nicht noch irgendwelche Fallen einbauen".
Am Zielsprung in Kitzbühel kam es oft zu schweren Stürzen
Bei Ferstl und dem Österreicher Hannes Reichelt, über Jahre Athletensprecher im Weltverband Fis, rief das auch einen leidigen Zyklus in Erinnerung: Nach schweren Unfällen übten sich die Verantwortlichen eine Weile in Zurückhaltung, dann schwelle der Wunsch nach Spektakel wieder an.
Ein kurzer Streifzug, nur durch die düsteren Kitzbüheler Archive: Andreas Schifferer aus Österreich stürzte 1996 am Zielsprung, Schädel-Hirn-Trauma, drei Tage Koma. Der Amerikaner Scott Mcartney 2008: Sturz am Zielsprung, Schädel-Hirn-Trauma, drei Tage Krankenhaus. Der Schweizer Daniel Albrecht im Jahr darauf: Sturz am Zielsprung, drei Wochen Koma, Karriereende; Albrecht musste das Sprechen und Gehen neu erlernen. Kryenbühl erwischte es offenbar nicht so schlimm, es bleibt aber abzuwarten, wie er - neben den konventionellen Brüchen und Bänderrissen - die seelischen Schrammen wegsteckt: Die zeigen sich oft erst später und können tiefe Wurzeln schlage.
Reichelt hatte sich von seinem Amt als Athletensprecher in der Fis vor einer Weile übrigens entnervt zurückgezogen: Auch weil viele Vorschläge der Athleten in diversen Komitees versanden würden.
"Es tut mir leid, wie alles gelaufen ist", sagt der Renndirektor
Emmanuel Couder, der den Fis-Rennchef Markus Waldner in Kitzbühel vertrat, räumte nun immerhin ein, dass man sich "am Limit" bewegt habe. Was freilich auch impliziert: nicht darüber hinaus. Bei Hannes Trinkl, dem einstigen Abfahrts-Weltmeister aus Österreich und Mitglied der Fis-Renndirektion, klang das schon anders: "Es tut mir leid", sagte er, "wie alles gelaufen ist."
Für die Abfahrt am Sonntag werden sie den Sprung endlich stutzen, Ferstl regte aber auch eine nachhaltigere Strategie an. Die Skier und alle verbundenen Materialkomponenten hätten sich in den vergangenen Jahren noch mal gewaltig entwickelt: Früher seien die Fahrer die Streif in 1:51 Minuten "fast ohne Kurven" hinuntergerauscht, jetzt sei man zwei Sekunden langsamer - unter anderem mit "einem Riesenslalomschwung am Hausberg", so Ferstl.
So rasant wie sich der Sport entwickele, müssten sich Fahrer und Weltverband nachhaltiger beraten - nicht erst, wenn wieder etwas Schlimmes passiert sei. Man müsse, fand Ferstl, ja nur wieder die Verletztenlisten dieses Winters studieren. Neben dem aufstrebenden Kryenbühl hatte es am Freitag auch den Amerikaner Ryan Cochran-Siegle erwischt, im Vorfeld bereits den letztjährigen Gesamtweltcup-Sieger Aleksander Aamodt Kilde, den Schweizer Mauro Caviezel, die Norweger Lucas Braathen und Atle Lie McGrath ...
Und die restlichen Unterbrechungen, die das Rennen am Freitag fast zum Abbruch geführt hatten? Viele Trainer und Verantwortliche kritisieren schon seit Jahren, dass die Startintervalle zwischen den Läufern in Kitzbühel immer länger werden, diesmal bis zu 2:40 Minuten - selbst ohne große Pausen dauerte es in den vergangenen Jahren rund eineinhalb Stunden, bis die ersten 30 Fahrer das Ziel erreicht hatten.
Die TV-Stationen, heißt es, würden dem entgegenhalten, dass sie die berühmteste Abfahrt der Welt nun mal bestmöglich inszenieren wollen, mit Zeitlupen und Analysen. Am Freitag zeigte sich die Schwachstelle dieses Konstrukts, wieder einmal: Je länger die Unterbrechungen währten, desto mehr zog sich die Sonne zurück, desto schwerer hatten es die Fahrer mit höheren Startnummern. Und die Dunkelheit war wohl auch ein Grund, weshalb die Spur vor dem Zielsprung ein wenig gefror und noch schneller wurde.
Ob das der Inszenierung am Ende so viel mehr half?
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