Nach 15 Minuten ist noch lange nicht Schluss. Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf haben wieder einmal Sendezeit gewonnen in ihrer Show Joko und Klaas gegen Pro Sieben, üblicherweise sind es 15 Minuten, die sie frei gestalten können. In der Vergangenheit haben die beiden die Zeit auch mal dafür genutzt, einfach das RTL-Programm zu zeigen. Vor allem aber: für mehrere der relevantesten Fernsehmomente des vergangenen Jahres. In Männerwelten ging es um sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen, in A Short Story of Moria um die Zustände in dem abgebrannten griechischen Flüchtlingslager.
Dieses Mal geht es um den Pflegenotstand. Und Heufer-Umlauf und Winterscheidt füllen nicht 15 Minuten, sondern den gesamten Fernsehabend bis weit nach Mitternacht. Was passt. Schließlich machen die Pflegenden, um die es geht, auch Überstunden ohne Ende. Und was ein großer Bruch ist zu dem, was man vom durchformatierten Fernsehen gewohnt ist.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer begleiten eine gesamte Frühschicht, sie sind so nah dran am Alltag einer Pflegekraft, wie man nur sein kann. Die Pflegekraft heißt Meike Ista, sie arbeitet im Knochenmark- und Transplantationszentrum der Uniklinik Münster, und für diese Schicht im März 2021 hat sie sich eine Kamera umgehängt. Sie trägt die Zuschauenden bei sich, man sieht mit ihr, man fühlt mit ihr.
Dass hier eben keine Corona-Station zu sehen ist, sondern eine ganz normale Klinik, die ja weiterlaufen muss, Corona hin oder her, ist eine besondere Stärke der Sendung. Man ist in Echtzeit dabei, wie Ista frühmorgens im Dunkeln anfängt, wie sie die Patientinnen und Patienten besucht. Wie sie Fieber misst, Medikamente einstellt, Blut abnimmt, nach dem Befinden fragt, nach der Nacht fragt, Handschuhe anzieht, Handschuhe abstreift, Hände desinfiziert, zuhört, beruhigt, da ist.
Beim Zuschauen lauert Kopfwehgefahr, nicht nur weil das Bild wackelt, sondern wegen dem, was man erfährt. Im Splitscreen werden Pflegerinnen und Pfleger verschiedenster Kliniken und Heime eingeblendet. Sie erzählen von Kollegen, die 23 Tage am Stück ohne Pause arbeiten, von anderen, die aussteigen, weil sie nicht mehr können. Von der Erschöpfung und vom Frust und davon, dass sie den Beruf nicht tauschen wollen würden, aber unbedingt die Bedingungen. Da ist der Altenpfleger, der beschreibt, wie viel Schönes man zurückbekommt, und die Intensivkrankenschwester auf der Frühchenstation, die sagt: "Ich bin die, die der Mama ihr totes Baby aus dem Arm nimmt."
Sie alle wollen ja gar nichts besonderes. Sie wollen vor allem Anerkennung, und zufrieden nach Hause gehen können.
Immer wieder wird dabei klar: Es geht um Politik hier, ums politische Schleifenlassen. Und auch wenn einer von der Arbeit auf der Corona-Intensivstation erzählt und sagt, dass er lieber nochmal nach Afghanistan würde als dorthin zurück: Der Pflegenotstand war schon vor der Pandemie da, das macht die Sendung jederzeit klar. Wie es eine der Pflegerinnen sagt: "Corona ist nicht schuld daran. Corona ist das Brennglas, das alles in den Fokus gerückt hat."
Die Pflegenden klagen, ja. Aber sie sagen auch, was es bräuchte, bessere Bezahlung, mehr Personal, mehr Respekt. Dass man an die Pflege nicht erst denkt, wenn man sie braucht.
Entsprechend wird der Hashtag #nichtselbstverständlich eingeblendet, und im Verlauf wird die Twitter-Diskussion leicht zeitversetzt in die Sendung aufgenommen. Gleichzeitig bleibt die Kamera bei Meike Ista. Solange die Schicht läuft, führt kein Weg raus aus der Station. Es gibt auch, für einen Privatsender außergewöhnlich, keine Werbeunterbrechung (wenn man von den wiederholten Einblendungen absieht, in denen Joko und Klaas auf ihre Sponsoren hinweisen.)
Die inhaltliche Dringlichkeit wird unterstützt durch die formale. Man muss dableiben, streng in der Perspektive der Fachkraft, statt die oft gesehenen Bilder mal aus der einen Kamera-Blickwinkel und mal aus dem anderen geliefert zu bekommen. Das hat den Effekt, dass sich neben Erschütterung noch ein Gefühl breit macht. Respekt vor der Arbeit, und vielleicht sogar Mut. Weil man so viel Grundmenschliches spüren kann. Etwa: Was es für jemanden bedeuten kann, dass ein anderer einfach nur da ist und mit einem atmet.
Der Slogan "Joko und Klaas gegen Pro Sieben" ist dabei natürlich ein Witz. Es war zuletzt immer ganz klar Joko und Klaas für Pro Sieben. Nicht nur, weil etwa Männerwelten eine Wucht entfaltete und auf Youtube mehr als vier Millionen, auf Instagram sogar fast 20 Millionen mal angeklickt wurde. Sondern auch, weil es in die Bestrebungen des Senders nach mehr Relevanz passt.
Klar: Wer an einem beliebigen Nachmittag reinschaltet, bekommt bei Pro Sieben nach wie vor die unendlichste Wiederholung von Big Bang Theory zu sehen. Gleichzeitig aber hat der Sender zuletzt angekündigt, wieder eine eigene Nachrichtenredaktion aufzubauen, und zeigt politische Dokus wie die vom Reporter Thilo Mischke über Rechtsextreme, die jetzt für den Grimme-Preis nominiert ist. Dieser Weg hat mit der Konkurrenz durch Streamingplattformen zu tun: Wer politischen, womöglich auch spezifisch deutschen Debatten Platz einräumt, macht sich unterscheidbar. Und der Medienstaatsvertrag verspricht Sendern, die Public Value bieten, bessere Auffindbarkeit. Mehr Relevanz also. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer, das lässt dieser Abend erahnen, bedeutet das bestimmt nicht das Schlechteste.
Drüben bei den Öffentlich-Rechtlichen lief unterdessen Aktenzeichen XY. Wie seit mehr als 50 Jahren.
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