
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help - Hilfe zur Selbsthilfe
"Wir gehen jetzt mal in eine zerstörte Wohnung rein."
Kayu Orellana von der deutschen Hilfsorganisation "Help – Hilfe zur Selbsthilfe" in einem von unzähligen Häusern, die am 4. August in Beirut zerstört wurden.
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help – Hilfe zur Selbsthilfe
"Kaputte Fenster, es sind einfach überall Scherben, die ganze Stadt ist voller Scherben."
Um 18:08 Uhr Ortszeit waren im Hafen der Stadt 2750 Tonnen Ammoniumnitrat Nitrat explodiert. Ursache war offenbar ein Brand in einer Lagerhalle. Mehr als 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt, Gebäude in einem Radius von mehreren Kilometern beschädigt oder zerstört.
Hekmat Kai, Bäcker
"Ich habe den Krieg und harte Zeiten durchgemacht, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.”
Zehntausende Menschen sind mit einem Schlag obdachlos – viele bis heute.
Rita Faraj Oghlo, Nagelstudio-Mitabeiterin
"Es ist sehr schwer für uns. Unser Haus ist zerstört, wir haben keine Bleibe. Mein Mann ist verletzt, und wir wissen nicht, wie wir seine Operation bezahlen sollen.”
Wie Ersthelfer aus der ganzen Welt fliegt Kayu Orellana einen Tag nach der Katastrophe nach Beirut. Gemeinsam mit einer Partnerorganisation organisiert er erste Hilfe.
Miriam Younes, Büroleiterin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beirut
"Wenn man in Beirut ist, ist immer noch dieser Schock, als sei es eigentlich gerade erst passiert."
Miriam Younes lebt in Beirut. Sie arbeitet bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und engagiert sich in verschiedenen Hilfsprojekten, unter anderem sammelt sie mit der Organisation "Karma" Geld für die Behandlung krebskranker Kinder.
Miriam Younes, Büroleiterin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beirut
"Ich denke, dass es tatsächlich bei den Kindern, weil ich da Bescheid weiß, dass keine Behandlung längerfristig unterbrochen wurde, was ja immer gerade bei Krebs eine ganz große Gefahr ist. Aber das zweite Problem ist: Jetzt hat man natürlich auch Kinder und Jugendliche, die sind von der Explosion direkt betroffen. Und dann hat man eben diejenigen, die irgendwie indirekt betroffen sind. Und dann fehlt es halt schon überall an allem Möglichen. Ich glaube, das größte Problem ist, dass diese Katastrophe jetzt passiert in der größten Wirtschaftskrise, die der Libanon je erlebt hat."
Das ehemalige Bürgerkriegsland war schon vor dem 4. August in der Krise: Ein Großteil der Bevölkerung lebt in Armut, die politische Elite ist verhasst, das Gesundheitssystem unterfinanziert. Und dann kam die Explosion, die auch mehrere Krankenhäuser beschädigte.
Miriam Younes, Büroleiterin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beirut
”Und das ist natürlich auch ein Thema gewesen in den letzten Monaten bereits durch Coruna et cetera, dass sie immer mehr quasi an ihre Grenzen kommen. Das, finde ich, ist ein bisschen das Absurde, dass wir da immer schon vorher drüber geredet haben, jedes Mal gehört haben: Es kann eigentlich so nicht weitergehen, wenn wir jetzt mehr Fälle haben. Wohin soll das führen? Dann plötzlich haben wir eine Situation, in der Krankenhäuser mehr oder weniger komplett zerstört sind.”
Das Ausmaß der Zerstörung - eine Herausforderung auch für die Helfenden.
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help – Hilfe zur Selbsthilfe
”Wir können nicht allen helfen. Das müssen wir einfach von vornherein klarhaben.”
Help hilft alten Menschen und Menschen mit Behinderungen beim Wiederaufbau ihrer Wohnungen, etwa den Hamouds, in deren Haus drei betagte Familienmitglieder wohnen. Vermittelt wurden diese und andere Familie durch den lokalen Partner von Help.
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help – Hilfe zur Selbsthilfe
"Das ist genau der Grund, warum sich internationale NGOs angewöhnen sollten, mehr mit lokalen Partnern zu arbeiten. Gleichermaßen muss man aber, und das ist natürlich auch ein sensibler Punkt, aber das gilt eigentlich für den ganzen Nahen Osten, muss man natürlich besonders da auf Korruptionssachverhalte achten."
Korruption ist im Libanon weit verbreitet, sie verlangsamt den Wiederaufbau, weil sehr genau geprüft werden muss, ob Hilfsgelder auch wirklich ankommen. Viele Libanesen haben das Vertrauen in den Staat verloren – und nahmen nach der Explosion die Aufräumarbeiten selbst in die Hand.
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help – Hilfe zur Selbsthilfe
"Besonders die jungen Menschen, das hat uns brutal beeindruckt. In den ersten Tagen waren alle Stadtteile, in denen es größere Schäden gab, wirklich pickepackevoll mit Jugendverbänden. Da gab es alle möglichen Leute, verschiedenste Jugendgruppen, die kommunistische Jugend, irgendwelche Pfadfindergruppen und alles Mögliche, kirchliche Organisationen, alles Mögliche, zu Tausenden auf den Straßen und haben das Gröbste, was sie selber machen konnten, selber weggeschafft. Das habe ich in der Form auch noch nicht gesehen, dass Leute das dermaßen selbstbewusst und stolz in die eigene Hand nehmen. Beeindruckend."
Miriam Younes, Büroleiterin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beirut
"Aber das hat nicht nur diesen humanitären Charakter, sondern ist auch ein bisschen eine sehr, sehr große Wut dahinter. Was habt ihr eigentlich mit uns gemacht? Das hat man auch in den Protesten gesehen."
Viele Libanesen glauben nicht, dass die Hintergründe der Katastrophe aufgeklärt werden.
Miriam Younes, Büroleiterin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Beirut
"Das lässt natürlich auch eine zukünftige Unsicherheit. Es war eben kein Erdbeben. Wer weiß, was da noch in dieser Stadt lagert und wer weiß, was noch passieren kann. Also ich glaube, dass ist, was im Moment diese Schwere ausmacht in der Stadt. Dass man einfach das Gefühl hat, man ist eigentlich nirgendwo mehr sicher."
Kayu Orellana, Programmkoordinator Help – Hilfe zur Selbsthilfe
"Wir sind jetzt auf der ersten Baustelle und versuchen, ein abschließendes Bild vor unserer Abreise zu machen. Das deutsche Team wird morgen früh zurückreisen nach Deutschland."
Kayu Orellana ist zurück in Deutschland, ein libanesischer Projektmanager setzt die Arbeit im Libanon fort. Der Wiederaufbau wird ein Kraftakt, den der Libanon nicht alleine stemmen kann. Die Uno bat die internationale Gemeinschaft um Hilfsgelder, schätzungsweise 300.000 Menschen seien auf Unterstützung angewiesen. Hinzu kommen alle anderen Bedürftigen wie Geflüchtete aus Syrien, die nicht direkt von der Explosion betroffen sind. Der Verteilungskampf um Hilfe von außen dürfte härter werden.
August 23, 2020 at 12:49AM
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Beirut nach der Explosion: "Scherben, die ganze Stadt ist voller Scherben" - DER SPIEGEL
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