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Die Toten von Bergamo – eine Stadt und ihr Schicksal - RND

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Bergamo. In der Nacht vom 18. auf den 19. März passieren 13 Militärtransporter die Via Borgo Palazzo im Zentrum Bergamos. Beladen sind sie mit Särgen. Ein Anwohner wird durch den Motorenlärm wach. Er macht das Foto von dem Leichenkonvoi der italienischen Armee. Am nächsten Tag geht es um die Welt.

Es wird zum Symbol des Schreckens dieser Pandemie. Und es macht Bergamo bekannt – als das Zentrum, in der die Seuche zu dieser Zeit am schlimmsten wütet.

Nicht weit von dort, vor den Toren der Stadt, in der Kirche San Giuseppe in der Gemeinde Seriate, saß in dieser Nacht der Pfarrer Don Mario Carminati und tat das, was er in jenen Nächten immer tat. Er hat keine Erinnerung an diese spezielle Nacht, weil die Tage und Nächte in jenen Wochen für ihn immer gleich verliefen. “Ich habe mit den Toten geredet, die auf dem Boden meiner Kirche lagen”, sagt der Pfarrer. Mit jenen Verstorbenen also, für die woanders kein Platz mehr war, weil die Leichenhallen und Kühlhäuser längst voll waren, so viele raffte das neue Virus in jener Zeit hier dahin.

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In der Kirche von Pfarrer Don Carminati wurden wochenlang Tote gelagert. © Quelle: Cedric Rehman

Mit Angel hat der Pfarrer in jener Zeit zum Beispiel viel geredet, wegen dieses besonderen Namens, “Engel”. Angel blieb 20 Tage in der Kirche, in der Obhut des Priesters.

Geblieben sind von jener Zeit nur Flecken auf dem Marmorboden der Kirche. Sie stammen von dem Desinfektionsmittel, mit dem die Armee dreimal alles geschrubbt hat. Die äußeren Spuren, sie sind ansonsten getilgt worden. Das Virus, Sars-CoV-2, ist weitergezogen, es wütet jetzt vor allem in den USA und in Südamerika. Bergamo hat das Schlimmste längst überwunden, im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII., in dem Kranke damals auf den Gängen lagen, haben sie gerade den ersten Tag ohne Covid-19-Patienten auf der Intensivstation gefeiert. Es gab Applaus.

Doch in den Köpfen und Herzen der Angehörigen sind die Spuren noch ganz und gar präsent. Und vor allem die Fragen, die diese Zeit hinterlassen hat.

“Die Menschen haben ihre Verwandten in eine Ambulanz gebracht”, sagt Don Carminati. “Und irgendwann erhalten sie eine Urne. Abgesehen vom Todesdatum wissen sie nichts darüber, was dazwischen passiert ist.”

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Tiefe Narbe in Bergamo

Die Corona-Pandemie hat in der norditalienischen Stadt eine tiefe Narbe hinterlassen.  © Reuters

Wer trägt Schuld?

Rund 120.000 Einwohner hat die oberitalienische Stadt. 6000 Menschen sind hier an Covid-19 gestorben. Warum waren es so unglaublich viele? Was ist mit ihnen geschehen? Wer trägt Schuld?

Das ist das, was viele Angehörige nun wissen möchten. Und der Pfarrer Don Carminati will ihnen helfen, Antworten zu finden.

Dass seine Kirche zum Warteraum der Toten wurde, dass sich hier zwei Monate lang die Särge stapelten, lag daran, dass die Krematorien in Bergamo schon Mitte März ans Ende ihrer Möglichkeiten gelangt waren.

Alle drei Tage bringen die Laster neue Särge

Die Regierung entschied, die Corona-Toten östlich und westlich der Stadt in Provisorien aufzubahren. Massengräber wollten die Politiker unbedingt vermeiden. Also wählten sie eine leer stehende Fabrik in der Gemeinde Ponte San Pietro für die Aufbahrung der Corona-Toten – und die Kirche von Serate.

Inmitten des Chaos rang der Priester nun um Respekt für die Toten. Don Carminati war dabei, als die Särge in die Kirche getragen wurden. Er legte eine Blume auf den Sargdeckel und zündete eine Kerze an. Mit seinem Handy fotografierte er die eingravierten Namensschilder. Dann segnete er die Verstorbenen. Im Schnitt alle drei Tage hielt der Konvoi im Schutz der Nacht vor der Kirche. Soldaten hievten die Särge dann mit einem Gabelstapler auf die Ladeflächen der Lastwagen.

Selten war Platz für alle.

Fotos von 270 Särgen

Carminati hat die Fotos der Namensschilder von 270 Särgen gespeichert. Er kann nun Angehörigen von Corona-Opfern Auskunft geben. Viele in der Region wollen wissen, ob auch ihre Eltern oder Großeltern tagelang auf dem Kirchenboden lagen, bevor Lastwagen sie wie eine Ware quer durch Italien zu noch nicht ausgelasteten Krematorien fuhren. Zumindest das kann Don Carminati ihnen sagen.

Bestattet werden konnten die Opfer dann erst nach der Lockerung der Quarantänebestimmungen. “Der Trauerprozess in der Stadt hat für viele noch nicht mal begonnen”, sagt der Priester.

Die Touristen meiden die Stadt

Das Leben regt sich in Bergamo erst wieder seit dem 18. Mai – an diesem Tag endete selbst hier, im Epizentrum der Seuche, die strenge Phase des nationalen Lockdowns. 60 Millionen Italiener hatte sie in die Quarantäne gezwungen.

Doch die Touristen meiden die Stadt noch immer. Die über dem Rest der Stadt auf einem Berg thronende Città Alta mit ihren Basiliken und Trattorien, die Oberstadt, ist zur Mittagszeit so menschenleer wie das Città Bassa genannte Zentrum mit seinen Luxusläden. Die Bergamasken, wie die Einwohner der Stadt heißen, gehen vormittags und abends wieder auf die Straßen und setzen sich in Cafés, Kellner messen ihnen zuvor Fieber. Eine Maske trägt nahezu jeder, der sich unter freiem Himmel bewegt.

“Bergamo – gib nicht auf!”

Doch Ältere sind unter den Passanten rar. Viele, die überlebt haben, hätten aus Angst vor dem Virus seit Mitte März ihre Wohnungen nicht verlassen, heißt es. Mit Durchhalteparolen versehene Stadtfahnen hängen an vielen Balkonen. Sie verkünden: “Bergamo – mola mia!”, “Bergamo – gib nicht auf!”. Die Flaggen sind die einzigen sichtbaren Hinweise darauf, dass sich in der Stadt etwas Beispielloses ereignet hat.

Doch vom Geist dieser Parole “Bergamo – gib nicht auf!” sei nicht viel geblieben, bedauert Stefano Fusco in seinem Haus im Vorort Brusaporto. Der 28-Jährige, der nur im Freien seine Maske abnimmt, hat nach dem Corona-Tod seines Großvaters Antonio gemeinsam mit seinem Vater Luca die Organisation “Noi denunceremo” gegründet, “Wir klagen an”. Rund 56.000 Menschen sollen sich ihr bereits über die sozialen Medien angeschlossen haben. Mit 250 Beschwerden an die Staatsanwaltschaft wollen sie vor allem eines belegen: das Versagen der Behörden während der Corona-Katastrophe.

Gründeten die Bewegung “Wir klagen an”: Arianna Dalba und Stefano Fusco. © Quelle: Cedric Rehman

Zu den Leidtragenden gehört er selbst: Jeden Morgen, wenn er aufwacht, überrolle ihn eine Woge der Panik, erzählt Fusco. Seit Wochen nimmt er Medikamente gegen seine Angst. Er fühlt sich gefangen in einer Stille, in der das Heulen der Krankenwagensirenen, das Rattern der Militärfahrzeuge und das Leuten der Totenglocken als einzig wahrnehmbare Geräusche unerträglich laut waren.

Die Leere ohne Nonno

Und da ist die Leere ohne den geliebten Großvater. Wochenlang habe die Familie während des Lockdowns nur am Telefon trauern können, obwohl drei Generationen im selben Straßenzug leben. Wie genau Antonio Luca starb, ob ein Pfleger oder eine Krankenschwester die Zeit fand, seine Hand zu halten, als es zu Ende ging, die Angehörigen wissen es nicht. Und dieses Nichtwissen quält sie. Sein Großvater sei ein typischer italienischer Nonno gewesen. “Mein Opa hat mich vier Jahre lang kostenlos bei sich wohnen lassen, als ich kein Geld verdient habe”, erzählt Fusco. “Die Corona-Pandemie hat der ganzen Stadt ihre Nonnas und Nonnos genommen.”

Können die, denen solche Verluste erspart geblieben sind, Menschen wie ihn überhaupt verstehen?

Fusco hat da seine Zweifel. Für jene, die das Trauma auf Bergamasker Art bewältigen wollten, also mit noch mehr Fleiß und Geschäftigkeit, könnten die Trauernden bald schon eine Last sein, befürchtet Fusco.

Die Provinzregierung verzichtete zunächst auf den Lockdown

“Wir Bergamasken sind von Arbeit besessen. Und manche glauben, es wird schon alles gut, wenn die Wirtschaft wieder läuft”, sagt Fusco.

Dabei könnte es auch genau dieser ausgeprägte Geschäftssinn gewesen sein, der die Stadt in den Abgrund gestürzt hat, vermuten die Aktivisten von “Wir klagen an”.

Denn während die Armee die benachbarten Regionen um die Städte Lodi und Codogno bereits Ende Februar als sogenannte “Rote Zonen” abgeriegelt hatte, verzichteten die Behörden der von der rechtsgerichteten Lega gestellten Provinzregierung darauf, zwei Gemeinden in der Nähe von Bergamo nach den ersten Corona-Fällen ebenfalls unter Quarantäne zu stellen. Ein Grund könnte sein: Sowohl in der Kleinstadt Nembro als auch in Alzano Lombardo befinden sich wichtige Industriebetriebe – sie gelten als Filetstücke der wohlhabenden Region Bergamo.

Der Großvater steckte sich im Heim an

Die örtliche Sektion des italienischen Industrieverbands Confindustria weist eine Einflussnahme auf die Regierung zwar zurück, Stefano Fusco aber will die Frage juristisch klären lassen. “Ich will den Verband nicht beschuldigen. Aber Unternehmer wollen nun mal Geld verdienen”, sagt er.

Der Tod seines Großvaters wäre jedenfalls möglicherweise vermeidbar gewesen. Der 85-Jährige steckte sich während der Reha in einem Heim an, in dem er sich von einem Schlaganfall erholen sollte. Sein Physiotherapeut kam aus Nembro.

“Er hat sogar noch gescherzt und meinen Großvater gefragt, ob er nicht wegen dieses Virus Angst hätte vor ihm”, erzählt Fusco. Als die hustenden Patienten in den Krankenhäusern in der zweiten Märzwoche plötzlich keine Luft mehr bekamen, schickten die Ambulanzen die Patienten mit leichten Symptomen wieder nach Hause – oder in Einrichtungen wie jene, in der Antonio Fusco starb.

Mailand wollte keine Patienten

Der Klinikpfarrer Don Claudio hat vielleicht Antworten auf die Fragen nach Schuld und Sühne und der Zukunft Bergamos. In der kleinen Gavanezzi-Klinik starben 400 Patienten unter seinen Augen.

Don Claudio (rechts) ist Klinikpfarrer. Er begleitete 400 Menschen in den Tod. © Quelle: Cedric Rehman

“Ich blieb bei ihnen, wenn es zu Ende ging, aber nur zehn Minuten lang, dann wurde schon der Nächste kritisch”, erzählt er. Don Claudio sieht eine Ursache für die Katastrophe darin, dass kein Personal die infizierten Ärzte und Pfleger ersetzte und keine Region Erkrankte aufnahm. “In Mailand waren die Kliniken halb leer, aber sie sagten, sie könnten nicht riskieren, dass bei ihnen Ärzte fehlen, wenn das Virus kommt”, sagt der Seelsorger. Er tut sich dennoch schwer, die Gesundheitsbehörden in Mailand zu verurteilen. “Wir hatten es mit etwas völlig Neuartigem zu tun”, meint er.

Klar ist für ihn vor allem eines: Die Corona-Katastrophe wird die Stadt verändern. “Wir haben in Bergamo alle im selben Moment den Tod gesehen”, sagt der Seelsorger. In der Stadt, die gleichermaßen von harter Arbeit und Genuss geprägt war, könne niemand mehr vor seiner Endlichkeit davonlaufen.




July 14, 2020 at 10:30AM
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